Angstselbsthilfe mit Corona

Die Arbeit in einer Selbsthilfegruppe gestaltet sich in Zeiten der sozialen Distanzierung recht schwer. Manche von uns Angstpatienten aben mit zwischenmenschlichen Nähe immer wieder erhebliche Probleme. Umso wichiger ist es, diese weiter zu erhalten und auch zu üben.

Für den Austausch unserer Mitglieder haben wir nun begonnen, unsere wöchentlichen Gruppentreffen mittels Videokonferenz abzuhalten.

Unser bisheriger Ablauf gestaltet sich so, dass ein Gruppenmoderator einen Konferenzraum startet und mit einem Kennwort schützt. Anschließend werden unsere Mitglieder eingeladen an der Konferenz teil zu nehmen.

Der virtuelle Raum kann zwar echte Gruppentreffen nicht ersetzen, hilft uns aber die Zeit bis wir diese wieder sicher abhalten können, zu überbrücken.

Angst im Alltag und am Arbeitsplatz

Krankhafte Angst ist neben Depressionen die zweithäufigste psychische Erkrankung, etwa 13 Prozent der deutschen Bevölkerung sind heute betroffen. In den letzten zehn Jahren haben sich Angsterkrankungen und Depressionen zum Hauptgrund für das unfreiwillige und vorzeitige Ausscheiden aus dem Berufsleben entwickelt.

1461 Menschen in 23 Jahren, die gelernt haben mit ihrer Angst zu leben. Das ist die positive Bilanz der Selbsthilfegruppe Sprungbrett für Menschen mit Angst und Panik.

Angst ist an sich etwas Normales, sozusagen ein Frühwarnsystem des Körpers, als Schutz vor Gefahren und Überforderung. Allerdings kann sich die Angst auch krankhaft verändern.

Die krankhafte Angst blockiert viele Lebensbereiche. Ein Mensch, der sich von seiner Angst beherrschen lässt, ist in vielen Situationen wie gelähmt und versucht diese zu vermeiden. Die körperlichen Symptome sind Herzrasen, Schwindel, Magenbeschwerden, Durchfall, Atemnot, kalter Schweiß, Harndrang und Kopf- und Rückenschmerzen.

Keine Fehler machen zu dürfen, ständig 150 Prozent Leistung bringen, keine Schwäche zeigen, immer stark sein, sind nur einige Ursachen für krankhafte Angst und Depression. Darüber reden können Betroffene oft nicht, die Angst vor dem was Kollegen und Kolleginnen oder Verwandte denken könnten, ist zu groß. Nicht selten greifen Betroffene zur Selbstmedikation, unter anderem ist Alkohol- oder Schmerz- und Beruhigungsmittelmissbrauch die Folge.

Unternehmen beklagen sich über hohe Personalkosten durch Ausfallzeiten von Mitarbeitern. Dabei könnten sie selbst dazu beitragen, den Leistungsdruck abzubauen und mehr Sorgfalt walten zu lassen. Mitarbeiter sind keine Maschinen, die man durch Knopfdruck steuern kann. Nur ein zufriedener und gesunder Mitarbeiter ist ein guter Mitarbeiter und die Garantie für ein gesundes und erfolgreiches Unternehmen. Die Vorgesetzten müssen besser geschult werden, um frühzeitig zu erkennen, wenn Mitarbeiter schwächeln oder höhere Ausfallzeiten haben. Betroffene, die unter den psychosomatischen Beschwerden wie Angst, Panik und Burnout oder andauernde Antriebslosigkeit leiden, sollten umgehend mit ihrem Arzt darüber sprechen oder sich an eine Selbsthilfegruppe wenden.

„Nichts ändert sich, außer ich ändere mich“, so Hans-Dieter Block, der 1988 die Selbsthilfegruppe gründete und seither ehrenamtlich leitet. Gemeinsam mit anderen über eigene Probleme reden und verstanden zu werden, ist der erste Schritt zur erfolgreichen Angstbewältigung.

Ausflug

Böblingen – Ausflüge können der blanke Horror sein. Den fünfzig Reisenden der Böblinger Selbsthilfegruppe wäe es am liebsten, ihre Tagestour ginge schnell vorbei. Denn die Angst führt bei ihnen mit.

Hinter Glas liegt aufgeschlagen die Braunschweiger Gerichtsakte der Catherina Ranzenbach aus dem Jahr 1656. Auf der Folter gestand sie, Unzucht mit dem Teufel getrieben zu haben. Man verbrannte sie dafür auf dem Scheiterhaufen. Daneben sind die Gerätschaften zu sehen, die die Frau geständig machten: Zungenschrauben, Doppeldaumenschrauben, Eiserne Krawatten.

Die Schweinemaske mussten Frauen überstreifen, deren sittliche Verfehlungen nicht ganz so schlimm ausfielen. Oder sie wurden in der Eisernen Jungfrau, eine Art Sarkophag, aufbewahrt und ausgestellt. Auch der Hexenfänger, eine vorn mit gezacktem Halseisen versehene Stange, war öfter im Einsatz. Ganz zu schweigen von dem stattlichen Richtschwert mit der Gravur „Ich schone niemand“ auf der Klinge. „Schau Mutter“, sagt ein Bub vor einer Vitrine, „mit der Keule da wurden den Menschen die Knochen zerschlagen.“ Für Ute wird es jetzt zu viel. Sie geht.

Simone will nicht wieder weglaufen

Simone, eine Reisegefährtin, steht im Keller des Rothenburger Kriminalmuseums und hat auch Angst. Bei ihr sind es weniger die Folterwerkzeuge, die sie unruhig werden lassen. Ihr Problem sind enge Räume mit vielen Menschen. Die junge Frau könnte jederzeit zum Ausgang. Das wäre der einfache Weg. Doch bei diesem Ausflug, das hat sie sich vorgenommen, läuft sie nicht davon.

Fünfzig Passagiere sind an diesem sonnigen Samstag zu einer Busreise von Böblingen ins Fränkische aufgebrochen. Sie gehören zu einer Selbsthilfegruppe für Angstpatienten. Vier haben abgesagt. Einer konnte sich nicht überwinden, in einen Bus ohne Toilette zu steigen. Die anderen drei hatten gute Entschuldigungen. Aber die Wahrheit ist wohl eher: ihre Angst war wieder stärker. Dieser Tagesausflug nach Rothenburg ist für die meisten eine gewaltige Anstrengung, für manche eine regelrechte Folter.

Der 48-jährige Horst, der wie die anderen seinen richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen will, meldete sich drei Monate vor der Fahrt an. Seither haben seine Gedanken um den Tag gekreist, begleitet von Magenschmerzen und Durchfall. Was er fürchtet, kann er nicht sagen: „Das ist Angst vor der Angst, ich zerrupfe mein Hirn, unaufhörlich, ohne Ziel“, sagt er. So gehe es ihm immer, wenn Termine anstehen, ob Familienfeiern, Elternabende, Geschäftsbesprechungen. Am Abend vor der Reise war er kurz davor, wieder abzusagen.

Vor 24 Jahren durchlitt Horst die erste Panikattacke

Seine erste Panikattacke hatte er vor 24 Jahren bei der Arbeit. „Ich wollte gerade zu einer Konferenz, plötzlich war sie da. Ich bekam Herzrasen, fing an zu hecheln, Arme und Beine waren stocksteif, die Hände in Pfötchenstellung.“ Er nahm Betablocker, das Herzrasen wurde besser. Dafür meldeten sich bei den nächsten Attacken Magen und Darm. „Die Angst findet immer einen Weg“, sagt er. Der Ausflug läuft bisher ganz gut. Horst ist mit einem leichten Angstpegel unterwegs, die Bauchschmerzen seien nicht der Rede wert. Alles im Griff. Er hat einen grünen Aventurin in der Hosentasche. Kommt die Angst, drückt er den Stein ganz fest.

Eigentlich sei er glücklich. „Ich habe einen guten Job, eine intakte Familie, ich möchte mit niemandem tauschen.“ Wenn nur die Angst nicht wääre. Dabei seien er und die anderen von der Selbsthilfegruppe richtig hart im Nehmen. „Der Angstpegel bei einer Panikattacke wäre für Gesunde unerträglich. Selbst ein Bungeespringer vor dem Abgrund hat weniger Adrenalin im Blut“, sagt Horst. Nach einem Anfall sei er so geplättet wie ein Sportler nach einem Marathonlauf.

Die Gruppe steht jetzt vor einem mittelalterlichen Brunnen. Der Touristenführer erzählt vom Dreißigjährigen Krieg, der jeden zweiten Rothenburger dahinraffte. Seitdem habe sich nichts verändert. 11.000 Einwohner zählt das Städtchen und jährlich 2,5 Millionen Besucher. „Abends, wenn alle weg sind, liegt ein Hauch von Ewigkeit über dieser Stadt.“ Für den Mann ist es eine Führung wie jede andere. Dass manche seiner Zuhörer gerade bis zum Äußersten mit sich selbst ringen und kaum ein Ohr für die Geschichte vom legendären Rothenburger Meistertrunk haben, bemerkt er nicht.

Nach außen wirkt Nicole selbstbewusst

Da ist die 28-jährige Nicole, die sich am Morgen mit homöopathischen Tropfen gewappnet hat. Sie wirkt wie eine temperamentvolle, selbstbewusste Frau. „Innerlich bin ich total angespannt, mein Nacken ist hart wie Holz, ich hab das Gefühl, als laufe ich auf Eiern, beiße ständig die Zähne zusammen, mein Kiefergelenk ist schon ganz verspannt.“ Wenn es darum geht zu funktionieren, ist sie stark. Aber wehe, die Dinge entgleiten ihr. Allein schon der Gedanke, dass sie auf Hilfe angewiesen sein könnte, dass sie auf dem Kopfsteinpflaster zusammenbricht, die Kontrolle über sich verliert und anderen zur Last füllt, macht sie schier rasend. Deshalb geht sie auch in der Freizeit inzwischen kaum mehr aus dem Haus. Seit sie auf eigenen beruflichen Beinen steht, begleitet sie die Angst, dass man ihr irgendwann die hämischen Worte „Jetzt bist du aber richtig auf die Nase gefallen“ vor den Kopf knallt.

Da ist die 23-jährige Sybille, die noch nie eine Freundin hatte, bei den Eltern arbeitet und lebt. Wenn sie das Haus verlässt, dann nur mit der Mutter, der sie auch an diesem Ausflugstag nicht von der Seite weicht. Seit fünf Jahren ist sie in Therapie, ohne Erfolg.

Da ist der 36-jährige Klaus, der seinen Körper ständig in Gedanken durchleuchtet und auf Schwachstellen untersucht. Der Auslöser war eine defekte Pulsuhr, die einen Wert von 220 anzeigte. Klaus sah sich schon sterben. Seitdem stirbt er in seiner Einbildung drei- bis viermal am Tag.

Vom Einserschüler zum Schulverweigerer

Da ist der neunjährige Marvin, ein fleißiger Einserschüler, der sich eines Tages weigerte, in die Schule zu gehen. Er konnte nicht mehr. Der Junge hatte keine freie Minute: Nach der Schule ging’s zum Reiten, dann Tennis, Fußball, Klavier.

Da ist die 36-jährige Sabine. Sie stand mit ihrem Auto an einer Böblinger Ampelkreuzung und konnte plözlich vor lauter Angst nicht mehr weiterfahren. In ihrer Not rief sie Hans-Dieter Block an: „Hans, was soll ich machen? Hier hupen und schimpfen alle.“ „Ich komme“, sagte er.

Hans-Dieter Block hat vor zwanzig Jahren die Böblinger Selbsthilfegruppe gegründet. Weitere Ableger der Gruppe gibt es inzwischen in Leonberg, Nürtingen und Esslingen. Man trifft sich einmal in der Woche, macht Entspannungsübungen, spricht miteinander. Die Warteliste ist lang. In den vergangenen Jahren, sagt er, sei die Zahl der Betroffenen deutlich gestiegen. Oft sitze die Veranlagung in den Genen. „Die heutige Zeit macht aber sehr viele Angstpatienten: Mobbing, brachialer Leistungsdruck am Arbeitsplatz und dazu die Sorge, den Job zu verlieren.“ Das kann eine unheilvolle Mischung sein.

Jeder Mensch habe Angst. Krankhaft werde es, wenn sie in keinem Verhältnis mehr zur Realität stehe und außer Kontrolle gerate, sagt Block.“Jeder hat mal Kopfweh, aber nicht jeden wirft das gleich aus der Bahn, weil er überzeugt ist, an einem Hirntumor zu leiden.“ In vielen Fällen komme der Alkohol dazu, „dann hat man zwei Probleme“.

Für manche Patienten ist Block der Strohhalm, an den sie sich klammern. Denn ein halbes Jahr Wartezeit für einen Therapieplatz ist keine Seltenheit. Der 65-Jährige ist einer, der von seinen Leuten auch mal in den Arm genommen und geknuddelt wird, der dann schüchtern lächelt und seinen Blick senkt. Er kann aber auch sagen: „Mädchen, wenn du keine Therapie willst, brauchst du auch gar nicht mehr zu uns in die Gruppe zu kommen.“ Er weiß, wovon er spricht. Vor 22 Jahren saß er mit einem Nervenzusammenbruch am Standstreifen der Autobahn.

Schutzgefühl in der Gruppe

Zu den Sehenswürdigkeiten von Rothenburg gehört das ins Taubertal gebettete Topplerschlösschen aus dem 14. Jahrhundert. Man kann es von der Stadtmauer aus sehen, wo die Gruppe jetzt steht. Hans-Dieter Block weiß genau, wer von seinen Leuten gerade mit sich kämpft. Es erkennt es an den flatternden Lidern, den starren Blicken, der Unruhe. Aber er ist sehr zufrieden mit dem Ausflug: „Das Schutzgefühl in der Gruppe macht viel aus.“

Beim 24-jährigen Daniel, dunkle Haare, sportliche Figur, der wenig Interesse an dem Panoramablick zeigt, hat es im Hörsaal angefangen. Er saß in der Mitte. Aus heiterem Himmel wurde ihm Übel, kalter Schweiß rann von seiner Stirn. Von da an setzte er sich bei Vorlesungen immer nach außen. Der nächste Panikanfall überraschte ihn in der S-Bahn, danach fuhr er noch Rad. Dann passierte es im Media Markt, fortan mied er das Geschäft. Er schmiss das Studium, hörte mit dem Sport auf, am Ende verkroch er sich nur noch zu Hause. Wochenlang ging das so. Inzwischen hat er den Kampf aufgenommen. Er ist in psychologischer Behandlung. „Die Angst kriegt mich, wenn ich breitbeinig unter ihr liege“, sagt er. Daniel hat die Angst in Stufen eingeteilt. Eine Panikattacke ist Stufe zehn.“Wenn sich ein Anfall anbahnt, muss ich spätestens bei Stufe sieben was dagegen tun.“ Er schließt dann die Augen, ballt die Fäuste und sagt sich „ruhig atmen“.

Daniel bestellt eine Brezel. Da kann nicht viel schief gehen. Eine Wurst vom Imbiss könnte er nicht essen. „Da denke ich automatisch, die ist vielleicht schlecht, das Wort schlecht verbinde ich sofort mit einer Panikattacke, schon geht’s los.“ Bei der Stadtmauer über dem Taubertal sieht die Gedankenkette so aus: Ausblick, Höhenangst, Schwindel, und schon sind die Panikweichen gestellt. Der Vormittag, für Daniel immer die schwierigste Zeit, ist jetzt schon überstanden. Bis zum Ende des Ausflugs wird er nicht über Stufe vier hinausschießen. Nicht mal auf der Heimfahrt im Bus. Ein guter Tag.

Author: Robin Szuttor, veröffentlicht am 06.06.2008, Stuttgarter Zeitung